Über Zeiten und Grenzen hinweg!
Als junges Mädchen verliebte sich Claudia Unger in ein jahrhundertealtes Bauernhaus in Achenkirch. Als erwachsene Frau holte sie es an den Tegernsee. Das Protokoll einer ungewöhnlichen Liebensgeschichte und ein Plädoyer für landschaftsbewusstes Bauen.
Ist das nun ein neues Haus? Oder ein altes? Nicht wenige Spaziergänger am Rottacher Weißachdamm blieben stehen und rätselten, als dort vor einem Jahr zuerst das gemauerte Erdgeschoß und darauf ein wettergegerbter Holzblock in die Höhe wuchsen. Die Balken und Balkone, die Pfettenbrettl, sogar die Eingangstür sprachen für ein Bauernhaus, das einige Jahre auf seinem alpenländisch geneigten Dach trägt. Aber die Fenster und Rahmen, und insbesondere die eleganten Balkon- und Terrassentüren im gemauerten hinteren Teil — die sind doch definitiv neu!
Das Alte und das Neue machen aber nur einen Teil der Besonderheit des Hauses aus. Das architektonische Kleinod, das sich ein Jahr nach seiner Errichtung in die Tegernseer Landschaft einfügt, als hätte es schon immer hier gestanden — es war ursprünglich ein Bauernhäusl jenseits der Grenze, im tirolerischen Achenkirch. Dass der alte Hof jetzt im Bayerischen in neuem Glanz erstrahlt, hat er einer jungen Frau aus Bad Wiessee zu verdanken. Die Architektin Claudia Unger hat den Hof abtragen und umsetzen lassen — und ihn damit zugleich vor dem sicheren Verfall gerettet.
Das einstige Bauerngütl, das nun als stilvolles Wohnhaus zwischen Weissach und Seeufer Blicke auf sich zieht, ist nicht das erste alte Anwesen, das andernorts abgetragen und im Tal wieder aufgebaut wurde. Schon in den 1960er Jahren holte der Radio Moderator („Sie wünschen, wir spielen") und Sänger Fred Rauch eine ehemalige Flachs-Brechstube aus dem Leitzachtal nach Gmund. „Ohne Rauch", schrieben die Zeitungen damals, „wäre sie wohl in Rauch aufgegangen!' Der Vater von Skistar Markus Wasmeier, ein versierter Zimmerer, setzte Rauchs „Hüttl" wieder originalgetreu zusammen und schuf für den Heimat verbundenen Künstler ein originelles Gartenhäus¬chen. Für deutlich mehr Aufsehen sorgte die Umsetzung des „Braun-Anwesens" in den Jahren 1977/78. Der Hof stand 250 Jahre lang in Durham bei Elbach, bevor ihn die Familie Hauner mit Hilfe fachkundiger Handwerker und unter den gestrengen Augen des Denkmalschutzes nach Festenbach umsiedelte.
Das einstige Bauerngütl ist nicht das erste alte Anwesen, das andernorts abgetragen und im Tal wieder aufgebaut wurde.
Nun also Claudia Unger. Als international tätige Architektin und gefragte Inneneinrichterin spielte der professionelle Aspekt bei dem grenzüberschreitenden Bauprojekt sicher eine wichtige Rolle: die Möglichkeit, ein 300 Jahre altes Haus quasi in seine Einzelteile zu zerlegen, das alte Holz zu spüren, Bautechniken nachzuvollziehen. Vor allem aber ist es eine Liebesgeschichte, welche die junge Frau und das betagte Haus verbindet.
Es begann, als Claudia Unger als Zehnjährige auf dem Rücksitz des Familienautos nach Christlum zum Skifahren gebracht wurde: „Da habe ich den Hof am Ortseingang von Achenkirch zum ersten Mal gesehen und nie wieder aus dem Kopf bekom¬men." Der Hof, damals noch bewohnt und in gu¬tem Zustand, hat jenen „Goldenen Schnitt", dem viele alte Bauernhäuser ihre beinahe magnetische Wirkung verdanken: Bauästhetik als Ergebnis einer tausendjährigen, kontinuierlichen Entwicklung in Harmonie von Landschaft, Baumaterial, Zweck, Raumerfordernis und Volksschlag. Was Profis anhand von Maßen nachweisen können, spüren auch Laien: Dass es bei solchen Gebäuden „einfach stimmt", wenn Grundriss, geschlossene Wandflächen und Öffnungen, helle Putzflächen und dunkles Holz, dazu die eine oder andere nicht übertriebene Zierform, in feiner Abstimmung zueinander stehen.
Warum ein solcher — trotz allem — vergleichsweise schlichter Bau ein junges Mädchen fasziniert, ist damit freilich nicht erklärt. Aber hiermit: Schon Claudia Ungers Vater ist Architekt, bereits als Kind ist sie mindestens so gern mit ihm auf Baustellen wie im Kosmetikinstitut ihrer Mutter. Die wiederum erinnert sich gut: Wenn Schulkameraden bunte Blumen und Tiere auf Malpapier bannen, zeichnet Claudia „immer nur Häuser". Nach dem Abitur studiert Claudia Unger Architektur an der TU München und schaut sich die Welt an. Sie baut Chalets und Villen in Südfrankreich, Rusticos in Italien, hat eine Geschäftsadresse in Dubai und eine an der Cöte d'Azur. Das Gütl in Achenkirch vergisst sie nie.
Längst ist das Häuschen unbewohnt, der Zahn der Zeit nagt mit jedem Jahr stärker am Dach und den Mauern. Bis plötzlich alles passt: Der Eigentümer will neu bauen und braucht den Grund, Claudia Unger hat die Mittel und Möglichkeiten, das Gebäude „heim" an den Tegernsee zu holen. Was folgt, ist ein Balance - und Kraftakt, der der Planerin und den beauftragten Handwerkern manches abverlangt. Denn in diesem Fall steht vor dem Bauen das Abbauen: Dachstuhl abheben, die handgehackten elf Meter langen Holzbalken behutsam aus ihren fest gefügten Verschränkungen und Verzapfungen lösen, nummerieren und schließlich — einem Maibaum -Transport nicht unähnlich — via Traktor über den Achenpass sicher ins Tal geleiten. Eingedrungener Nässe, Pilzbefall und hungrigen Holzwürmern werden zwischendurch in einer speziellen Trockenkammer bei 80 Grad und mittels UV-Licht der Garaus gemacht. Als der Block später auf dem passgenau gemauerten Erdgeschoss zu stehen kommt, folgt noch eine schonende Abstrahlung mit Trockeneis: „Damit bekommt man den Schmutz von der Oberfläche, ohne die Balkenstruktur anzugreifen."
Im vorderen „alten" Teil des Hauses hält Claudia Unger an der überlieferten Raumaufteilung fest: Vom langen Hausgang geht es ebenerdig in Stube, Küche und Wohnbereich, eine offene Treppe führt nach oben zu Schlaf-, Gäste- und Badezimmer und dem weiten, über die volle Hausbreite reichenden Studio mit Balkon und Galerie, von dem aus der Blick bis hinauf zu den Dachbalken und auf die weiß verputzte Zwischensparrendecke fällt. Hier im neuen Hausteil jenseits des Holzblocks gestattet sich die Architektin ein paar italienische Anleihen: Der Boden aus getrommeltem Travertin bringt Licht, die strukturierten Wände („Kirchenputz, mit der Kelle aufgetragen!") schaffen die stimmige Verbindung zum Holz, das auch in den exklusiven Badezimmern dominiert. So gut, wie südländische Leichtigkeit und bayerisch-tirolerische Baukunst harmonieren, fügt sich auch das technische Innenleben ein. Da ergänzt eine Fußbodenheizung den Grundofen, die (zeitgemäß vergrößerten) Fenster in den typischen schrägen Laibungen im imposanten 42er Mauerwerk sind nicht nur „sprossenhaft schön", sondern auch funktionell.
Eine Landschaft „lesen" und erspüren. So bauen, wie es für die jeweilige Region typisch ist. Alte Bausubstanzen und Materialien integrieren, ohne die heutigen Ansprüche an Komfort und Bequemlichkeit aus den Augen zu verlieren. Aus überlieferten Bautechniken zu lernen statt kurzlebigen Trends zu folgen. Das sind die Ansprüche und Ziele, an denen sich Claudia Unger als Architektin orientiert — und an denen sie sich auch messen lassen will. Alt und neu eben. Das neue alte Haus am Weißachdamm zeigt, wie individuell und anziehend diese Verbindung glücken kann.